” “Meduza” ist ein ausländischer Agent. Wie geht es weiter? Spoiler: Wir wissen es nicht”

Dem in Lettland ansässigen Nachrichtenportal “Meduza” wurde vor einigen Tagen per Gericht der Status eines “ausländischen Agenten” zugewiesen. In den letzten 4-5 Jahren wird diese Bezeichnung genutzt, um dem russländischen Staat unliebsame Organisationen, Vereine und seit Anfang dieses Jahres auch Personen zu brandmarken. Es wird von ihnen selbst und den Medien gefordert, diese Bezeichnung stets anzugeben, finanzielle Operationen werden erschwert, die Zusammenarbeit zu Werbezwecken wird enorm erschwert. Ideologisch und sozial ist dies nichts anderes als eine Brandmarkung mit Rückgriff auf die “Volksfeinde”-Rhetorik aus Stalins Zeiten. Die älteste und wohl einflussreichste und angesehenste Menschenrechtsorganisation “Memorial” ist seit einigen Jahren auch ein “Agent”. Nun hat es auch eines der wenigen objektiven, kritischen, journalistisch Hochwertigen russischsprachigen Medien getroffen, welches ich z.B. täglich rezipiere. Es sind schon erhebliche Einbußen der Werbeeinnahmen durch diese neue Einschränkung entstandem. Jetzt ist dieses Medium auf Spenden der Leserinnen und Leser angewiesen.

Repressionen übermalen, verschweigen, verdrängen

Sankt-Petersburg, heute.

Der “unbedeutende Blogger“(©Putin) darf im öffentlichen Raum und Bewusstsein nicht vorhanden sein. Dieses Mural war zum Beispiel nur vier Stunden zu sehen, bevor es übermalt wurde. Die höchsten offiziellen Stellen, inklusive des Präsidenten, seines Pressesprechers Peskow etc, vermeiden es, ihn beim Namen zu nennen. Es gibt auch kuriose Auswüchse dieser seltsamen, zutiefst archaischen Praktik, den Namen eines Feindes nicht auszusprechen: Es ist mehrmals vorgekommen, dass im Winter große Schnnehaufen in Wohblöcken tagelang nicht entfernt wurden. Wenn man jedoch “Nawalny“ draufschrieb, war der Schnee im nu verschwunden. ;))

Update: Nach der Person (oder den Personen), die gestern dass Nawalny-Mural in Sankt-Petersburg angebracht haben und welches nach nur vier Stunden übermalt worden ist, werde mittlerweile gefahndet berichtet “Fontanka”. Es drohe eine Strafsache nach Paragraf 214 Absatz 2 des russländischen Strafgesetzbuches schreibt das Petersburger Nachrichtenportal mit Berufung auf die Nachrichtenagentur “Agentstvo zhurnalistkich rassledovanij”. Konkret werden den Autoren folgende Straftaten vorgeworfen: “Vandalismus, begannen von einer Personengruppe aus Motiven des politischen, ideologischen, rassistischen, nationalen oder religösen Hasses oder Feindschaft.”

Proteste am 21. April in Sankt-Petersburg: Eine zusammenfassende Presseschau

Am Mittwoch, den 21. April fanden in ganz Russland und in vielen Städten weltweit Proteste und Kundgebungen statt, auf denen die Zulassung von Ärzten zu Alexei Nawalny sowie seine Freilassung aus unrechtmäßiger Haft und die Freilassung aller politischen Gefangenen in Russland gefordert wurde.

In Moskau wurde dieses Mal nicht wirklich hart durchgegriffen, anders als in der „zweiten Hauptstadt“ Sankt-Petersburg, die einsamer Spitzenreiter unter allen russländischen Städten wurde, was sinnlose und brutale Polizeigewalt gegen Demonstrant*innen angeht. So schreibt das Nachrichtenportal „Nowyj prospekt“, dass die Verhaftungen in Sankt-Petersburg das 27fache der Moskauer Festnahmen darstellten. Die „Deutsche Weile“ bestätigt diese Zahl mit Verweis auf „OWD-Info“. „Sewer Realii“ schreibt von insgesamt 806 Festgenommenen.

Wie die „Deutsche Welle“ berichtet, seien von der Polizei eingesetzte Elektroschocker bereits ein Wahrzeichen der Polizeigewalt In Sankt-Petersburg geworden. So berichtet Aleksandr Schadrin, Historiker und Mitglied der oppositionellen Partei „Jabloko“, dass er, ohne irgendwas zu skandieren den Sennaja-Platz durchqueren wollte, als sich von hinten mehrere Menschen auf ihn stürzten, zu Boden stießen und seine Brille zerbrachen. Danach habe man ihn zum bereitstehenden Polizeiauto gezerrt, wo dann auch noch ein Elektroschocker eingesetzt worden sei.

“Mit einem Knüppel schlagen? Wie ungehobelt”-“Dagegen der Elektroschocker: So fortschrittlich!”, Sergej Elkin für “Nowyj Prospekt”

Weiterhin berichtet die „Deutsche Welle“ von zahlreichen Rechtsverstößen auf den Polizeistationen: Erzwungene Abnahme von Fingerabdrücken, stundenlanges Festhalten in Polizeibussen, Verweigerung von Wasser, keine Weitergabe von von Freunden/Verwandten durchgereichten Päckchen.

Der Sankt-Petersburger Menschenrechtsbeauftragte Aleksandr Schischlow sprach von einem „Verfassungsbruch“.

„Es war dort so eng, dass wir die meiste Zeit nicht mal in Zellen, sondern in der Aula auf Stühlen oder auf dem Boden verbringen mussten. Es gab kein Essen, kein Trinken und wir wurden erst nach einem Verhör, Fingerabdruckabnahme und einer Fotoportätierung gehen gelassen, also etwa 11-12 Stunden später.“

berichtet eine Frau, die in die 26. Polizeistelle des Krasnogwardejskij-Bezirks gebracht wurde. Der Anwalt Sergej Podolskij berichtet, dass man ihn etwa neun Stunden lang nicht zu seiner Mandantin gelassen hätte, die in der gleichen Stelle festgehalten worden ist. Dabei habe die Frau direkt bei der Festnahme zu verstehen gegeben, dass zu Hause ein zweijähriges Kind allein sei. In so einem Fall darf man nicht länger als drei Stunden festgehalten werden. Doch er vermute, dass an diesem Tag bei der Polizei überhaupt keine Regeln und Normen gegolten hätten, so Podolskij.

“Seid Menschen, seid keine Mörder”: Erklärung der Redaktion von Meduza

„Alexei Nawalny stirbt im Gefängnis. Der Gesundheitszustand des Politikers, der erst vor kurzem wie durch ein Wunder eine Vergiftung mit dem Kampfgiftstoff „Nowitschok“ überlebte, verschlechtert sich rapide. Um zu erreichen, dass ihm in seine Strafkolonie ein Arzt gelassen wird, fing Nawalny einen Hungerstreik an. Er dauert bereits fast drei Wochen an. Es ist eine Geste der Verzweiflung. Die behandelnden Ärzte glauben, dass sein Leben in Gefahr ist.

Gleichzeitig hat sich die Staatsmacht dazu entschieden, seine Anhänger zu zerschlagen und vollkommen zu demoralisieren, indem sie seine Strukturen „extremisitsch“ erklärte. Das ist ein antidemokratischer, verfassungswidriger und vollkommen präzedenzloser Schritt- eine der radikalsten Handlungen der Regierung, die auf die Zerstörung der politischen Konkurrenz in Russland abzielt.

Aber selbst das verblasst vor dem Hintergrund dessen, was mit Nawalny geschieht, den man zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres umzubringen versucht.

Die besten ausländischen Massenmedien, Nobelpreisträger, Wissenschaftler, Schriftsteller, Hollywoodstars versuchen die Aufmerksamkeit der Welt auf das Schicksal Nawalnys zu lenken. Westliche Regierungen drohen der russischen mit Konsequenzen, sollte der Hauptrivale Putins im Gefängnis sterben. Seine Anhänger organisieren eilig eine Kundgebung.

Wird es helfen? Es ist sinnlos, zu raten. In der momentanen Situation muss man so handeln, was einem das gewissen sagt. Alexei Nawalnys Schicksal hängt nur von uns ab. Von jedem von uns. Und nur das ist momentan wichig.

Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns bleibt, um Nawalny vor dem Tod oder schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen zu retten. Möglicherweise ein paar Tage. Vielleicht ein paar Stunden.

Die Redaktion von „Meduza“ fordert, sofort Ärzte zu Alexei Nawalny zu lassen. Es ist eine absolut legale Forderung, der nachzukommen es leichter als leicht ist. Seid Menschen. Seid keine Mörder.“

Schließen Sie sich dieser Forderung an. Teilen sie diesen Text in den sozialen Netzwerken oder ändern Sie Ihr facebook-Profilbild als Zeichen der Solidarität mit einem Menschen, den man im Gefängnis umzubringen versucht. Es ist das Mindeste, was wir tun können.“

Original in Russisch: Мы требуем немедленно пустить врачей к Алексею Навальному От редакции «Медузы» — Meduza

Non grata

Der bekannte Moskauer Philologe, Schriftsteller und Hochschullehrer Oleg Lekmanow schreibt auf seiner Facebook-Seite:

“Was es Neues gibt? Neues gibts das hier: Liebe Freunde haben mich eingeladen, in einem Programm des Fernsehsenders “Kul’tura” aufzutreten, und über ein Thema zu reden, was mir durchaus naheliegt.Ich habe zugesagt. Gerade haben sie mich angerufen und zerknirscht berichtet, die Leitung des Senders habe ihnen klar gesagt: “Von nun an ist Lekmanow auf “Kul’tura” eine persona non grata.”Somit gibt es auch für uns gewisse kleine Signale.”

Vor etwa einer Woche nahm Lekmanow (der Bitte des Stabes von Alexei Nawalny folgend) ein Video auf, in dem er folgende Worte sprach: “Die Situation mit Alexei Nawalny erscheint mir als vollkommen inakzeptabel und empörend. Ein vollkommen unschuldiger Mensch wird aus privater Rache in ein Straflager gesteckt und jetzt auch an einem Treffen mit einem Arzt gehindert. Das ist ungeheuerlich. Ich rufe unsere gesamte Gesellschaft auf, ihre Trägheit aufzugeben und dieser schrecklichen Situation Aufmerksamkeit zu schenken. Freiheit für Alexei Nawalny und alle politischen Gefangenen.”

Kleiner Nachrichtenüberblick

Alexei Nawalny befindet sich seit einigen Tagen in Hungerstreik. Seit seiner Einlieferung in das Straflager Nr. 2 in Pokrow wird er durch u.a. Schlafentzug gefoltert. Sein medizinischer Zustand hat sich enorm verschlechtert, so spürt er sein linkes Bein nicht. Währenddessen hat ihm Maria Butina, eine “Journalistin” von RT aufgesucht und ihm eine Standpredigt (anders kann man es nicht nennen), das Gefängnis sei gut ausgestattet und besser, als so manches Hotel in Russland. Mit Journalismus hatte es nichts zu tun, nur mit Demütigung und moralischem Einprügeln auf jemanden, der auf dem Boden liegt. Eine medizinische Maske trug Butina in der Kolonie, in der Maskenpflicht herrscht, auch nicht. Ein besonders eklatantes Beispiel von vielen hunderten, was russländische Staatsmedien ausmacht.

Gestern hat Wladimir Putin das Gesetz unterzeichnet, welches es ihm ermöglicht, sich erst im Jahr 2036 um die Ermogelung von weiteren Amtszeiten kümmern zu müssen.

Seit etwa zwei Wochen gibt es eine größere Konzentration russländischer Truppen an der Grenze zur Ukraine. Gleichzeitig befinden sich drei Kriegsschiffe der baltischen Flotte Russlands unterwegs ins Mittelmeer und wahrscheinlich weiter ins Schwarze Meer. Auf der Krim wurden einige Tausend Mann starke Luftlandetruppen und etwa 500 militärtechnische Einheiten stationiert. Der Militärexperte der “Nowaja Gaseta”, Pawel Felgengauer hält einen Angriff von der ungeschützten ukrainischen Seeseite, etwa zwischen Odessa und Nikolajew für wahrscheinlich, ebenso einen großen Angriff im Osten der Ukraine, ausgehend von den “Volksrepubliken” Donezk und Luhansk. Als Zeitpunkt nennt er frühestens Mitte Mai, da davor die Steppelandschaften und -wege noch vollkommen verschlammt und schwer passierbar sind.

Am 3. April wurde in Sankt-Petersburg das Dokumentarfilmfestival “Artdocfest” von der Polizei aufgelöst. Polizisten und Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde “Rospotrebnadsor” haben einen Kinosaal noch vor Beginn der Vorführungen versiegelt, einen anderen, nachdem dort ein erster Film gezeigt worden ist. Grund für den Abbruch des Festivals ist angeblich ein Schreiben, anders als Denunziation kann ich es nicht nennen, des Aktivisten Timur Bulatow, der auf angebliche “homosexuelle Propaganda” und Nichteinhaltung von Corona-Schutzmaßnahmen hinwies. Bulatow ist ein ultrarechter homophober Sankt-Petersburger Aktivist, der systematisch eine regelrechte Hetzkampagne gegen lgbt-Menschen führt. So veröffentlichte er Adressen und Telefonnummern von Petersburger Schwulen und Lesben, machte homosexuelle Kinder ausfindig und outete sie ihren Familien und Lehrer*innen gegenüber, hetzte gegen Homosexuelle in den sozialen Netzwerken und denunzierte sie regelmäßig bei der Polizei. Die Strafverfolgung gegen die Künstlerin und Aktivistin Julia Zwetkowa, der wegen bodypositiven Zeichnungen von nackter Körper mehrere Jahre Haft wegen “Verbreitung von Pornographie” drohen, ist ebenfalls auf seinem Mist gewachsen.

Quellen:

https://www.svoboda.org/a/31186275.html https://m.rosbalt.ru/world/2021/04/02/1895262.html https://youtu.be/rUIBWdEBL4Ahttps://www.fontanka.ru/2021/04/05/69849905/?ref=f https://www.bbc.com/russian/news-56626780