Christina Hebel, Der Spiegel: Lagerhaft für Oppositionellen wegen Rammstein-Video Schade, Herr Lindemann

Zum Fall Andrej Borowikow schwieg Lindemann beharrlich. In dieser Woche folgte dann ein karger Satz: »Dieses Thema möchte ich nicht besprechen«, schrieb Lindemann der unabhängigen Zeitung »Nowaja Gazeta«. Das ist armselig, vor allem auch auf menschlicher Ebene.Das Urteil gegen Andrej Borowikow ist politisch motiviert und hat nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun – und so absurd, dass man es nicht wegschweigen kann.Borowikow sitzt seit mehr als drei Wochen in Haft, sein angebliches Vergehen: Er soll Pornografie verbreitet haben. 2,5 Jahre Straflager hat der Richter ihm dafür gegeben. Borowikow, seit seiner Kindheit Fan von Rammstein, hatte 2014 ein Video zu dem Lied der Band Pussy geteilt, darin enthalten sind auch Sexszenen. Der Clip war jahrelang auf Borowikows VKontakte-Seite zu sehen, der russischen Version von Facebook, – so wie bei vielen Hunderten anderen Anhängern der Musikgruppe auch. Später löschte er das Video sogar.Das macht überdeutlich, wofür Borowikow eigentlich abgestraft wird: Er ist Oppositioneller – und damit Feind des russischen Regimes.” via Berliner Osteuropa-Experten

Repressionen übermalen, verschweigen, verdrängen

Sankt-Petersburg, heute.

Der “unbedeutende Blogger“(©Putin) darf im öffentlichen Raum und Bewusstsein nicht vorhanden sein. Dieses Mural war zum Beispiel nur vier Stunden zu sehen, bevor es übermalt wurde. Die höchsten offiziellen Stellen, inklusive des Präsidenten, seines Pressesprechers Peskow etc, vermeiden es, ihn beim Namen zu nennen. Es gibt auch kuriose Auswüchse dieser seltsamen, zutiefst archaischen Praktik, den Namen eines Feindes nicht auszusprechen: Es ist mehrmals vorgekommen, dass im Winter große Schnnehaufen in Wohblöcken tagelang nicht entfernt wurden. Wenn man jedoch “Nawalny“ draufschrieb, war der Schnee im nu verschwunden. ;))

Update: Nach der Person (oder den Personen), die gestern dass Nawalny-Mural in Sankt-Petersburg angebracht haben und welches nach nur vier Stunden übermalt worden ist, werde mittlerweile gefahndet berichtet “Fontanka”. Es drohe eine Strafsache nach Paragraf 214 Absatz 2 des russländischen Strafgesetzbuches schreibt das Petersburger Nachrichtenportal mit Berufung auf die Nachrichtenagentur “Agentstvo zhurnalistkich rassledovanij”. Konkret werden den Autoren folgende Straftaten vorgeworfen: “Vandalismus, begannen von einer Personengruppe aus Motiven des politischen, ideologischen, rassistischen, nationalen oder religösen Hasses oder Feindschaft.”

Proteste am 21. April in Sankt-Petersburg: Eine zusammenfassende Presseschau

Am Mittwoch, den 21. April fanden in ganz Russland und in vielen Städten weltweit Proteste und Kundgebungen statt, auf denen die Zulassung von Ärzten zu Alexei Nawalny sowie seine Freilassung aus unrechtmäßiger Haft und die Freilassung aller politischen Gefangenen in Russland gefordert wurde.

In Moskau wurde dieses Mal nicht wirklich hart durchgegriffen, anders als in der „zweiten Hauptstadt“ Sankt-Petersburg, die einsamer Spitzenreiter unter allen russländischen Städten wurde, was sinnlose und brutale Polizeigewalt gegen Demonstrant*innen angeht. So schreibt das Nachrichtenportal „Nowyj prospekt“, dass die Verhaftungen in Sankt-Petersburg das 27fache der Moskauer Festnahmen darstellten. Die „Deutsche Weile“ bestätigt diese Zahl mit Verweis auf „OWD-Info“. „Sewer Realii“ schreibt von insgesamt 806 Festgenommenen.

Wie die „Deutsche Welle“ berichtet, seien von der Polizei eingesetzte Elektroschocker bereits ein Wahrzeichen der Polizeigewalt In Sankt-Petersburg geworden. So berichtet Aleksandr Schadrin, Historiker und Mitglied der oppositionellen Partei „Jabloko“, dass er, ohne irgendwas zu skandieren den Sennaja-Platz durchqueren wollte, als sich von hinten mehrere Menschen auf ihn stürzten, zu Boden stießen und seine Brille zerbrachen. Danach habe man ihn zum bereitstehenden Polizeiauto gezerrt, wo dann auch noch ein Elektroschocker eingesetzt worden sei.

“Mit einem Knüppel schlagen? Wie ungehobelt”-“Dagegen der Elektroschocker: So fortschrittlich!”, Sergej Elkin für “Nowyj Prospekt”

Weiterhin berichtet die „Deutsche Welle“ von zahlreichen Rechtsverstößen auf den Polizeistationen: Erzwungene Abnahme von Fingerabdrücken, stundenlanges Festhalten in Polizeibussen, Verweigerung von Wasser, keine Weitergabe von von Freunden/Verwandten durchgereichten Päckchen.

Der Sankt-Petersburger Menschenrechtsbeauftragte Aleksandr Schischlow sprach von einem „Verfassungsbruch“.

„Es war dort so eng, dass wir die meiste Zeit nicht mal in Zellen, sondern in der Aula auf Stühlen oder auf dem Boden verbringen mussten. Es gab kein Essen, kein Trinken und wir wurden erst nach einem Verhör, Fingerabdruckabnahme und einer Fotoportätierung gehen gelassen, also etwa 11-12 Stunden später.“

berichtet eine Frau, die in die 26. Polizeistelle des Krasnogwardejskij-Bezirks gebracht wurde. Der Anwalt Sergej Podolskij berichtet, dass man ihn etwa neun Stunden lang nicht zu seiner Mandantin gelassen hätte, die in der gleichen Stelle festgehalten worden ist. Dabei habe die Frau direkt bei der Festnahme zu verstehen gegeben, dass zu Hause ein zweijähriges Kind allein sei. In so einem Fall darf man nicht länger als drei Stunden festgehalten werden. Doch er vermute, dass an diesem Tag bei der Polizei überhaupt keine Regeln und Normen gegolten hätten, so Podolskij.

“Seid Menschen, seid keine Mörder”: Erklärung der Redaktion von Meduza

„Alexei Nawalny stirbt im Gefängnis. Der Gesundheitszustand des Politikers, der erst vor kurzem wie durch ein Wunder eine Vergiftung mit dem Kampfgiftstoff „Nowitschok“ überlebte, verschlechtert sich rapide. Um zu erreichen, dass ihm in seine Strafkolonie ein Arzt gelassen wird, fing Nawalny einen Hungerstreik an. Er dauert bereits fast drei Wochen an. Es ist eine Geste der Verzweiflung. Die behandelnden Ärzte glauben, dass sein Leben in Gefahr ist.

Gleichzeitig hat sich die Staatsmacht dazu entschieden, seine Anhänger zu zerschlagen und vollkommen zu demoralisieren, indem sie seine Strukturen „extremisitsch“ erklärte. Das ist ein antidemokratischer, verfassungswidriger und vollkommen präzedenzloser Schritt- eine der radikalsten Handlungen der Regierung, die auf die Zerstörung der politischen Konkurrenz in Russland abzielt.

Aber selbst das verblasst vor dem Hintergrund dessen, was mit Nawalny geschieht, den man zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres umzubringen versucht.

Die besten ausländischen Massenmedien, Nobelpreisträger, Wissenschaftler, Schriftsteller, Hollywoodstars versuchen die Aufmerksamkeit der Welt auf das Schicksal Nawalnys zu lenken. Westliche Regierungen drohen der russischen mit Konsequenzen, sollte der Hauptrivale Putins im Gefängnis sterben. Seine Anhänger organisieren eilig eine Kundgebung.

Wird es helfen? Es ist sinnlos, zu raten. In der momentanen Situation muss man so handeln, was einem das gewissen sagt. Alexei Nawalnys Schicksal hängt nur von uns ab. Von jedem von uns. Und nur das ist momentan wichig.

Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns bleibt, um Nawalny vor dem Tod oder schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen zu retten. Möglicherweise ein paar Tage. Vielleicht ein paar Stunden.

Die Redaktion von „Meduza“ fordert, sofort Ärzte zu Alexei Nawalny zu lassen. Es ist eine absolut legale Forderung, der nachzukommen es leichter als leicht ist. Seid Menschen. Seid keine Mörder.“

Schließen Sie sich dieser Forderung an. Teilen sie diesen Text in den sozialen Netzwerken oder ändern Sie Ihr facebook-Profilbild als Zeichen der Solidarität mit einem Menschen, den man im Gefängnis umzubringen versucht. Es ist das Mindeste, was wir tun können.“

Original in Russisch: Мы требуем немедленно пустить врачей к Алексею Навальному От редакции «Медузы» — Meduza

Non grata

Der bekannte Moskauer Philologe, Schriftsteller und Hochschullehrer Oleg Lekmanow schreibt auf seiner Facebook-Seite:

“Was es Neues gibt? Neues gibts das hier: Liebe Freunde haben mich eingeladen, in einem Programm des Fernsehsenders “Kul’tura” aufzutreten, und über ein Thema zu reden, was mir durchaus naheliegt.Ich habe zugesagt. Gerade haben sie mich angerufen und zerknirscht berichtet, die Leitung des Senders habe ihnen klar gesagt: “Von nun an ist Lekmanow auf “Kul’tura” eine persona non grata.”Somit gibt es auch für uns gewisse kleine Signale.”

Vor etwa einer Woche nahm Lekmanow (der Bitte des Stabes von Alexei Nawalny folgend) ein Video auf, in dem er folgende Worte sprach: “Die Situation mit Alexei Nawalny erscheint mir als vollkommen inakzeptabel und empörend. Ein vollkommen unschuldiger Mensch wird aus privater Rache in ein Straflager gesteckt und jetzt auch an einem Treffen mit einem Arzt gehindert. Das ist ungeheuerlich. Ich rufe unsere gesamte Gesellschaft auf, ihre Trägheit aufzugeben und dieser schrecklichen Situation Aufmerksamkeit zu schenken. Freiheit für Alexei Nawalny und alle politischen Gefangenen.”

Solidarität mit Nawalny! in Berlin

Ich höre von Bekannten, dass die heutige Berliner Solidaritätsdemo für Alexei Nawalny und gegen Putin die größte Demonstration der russischsprachigen liberal-oppositionellen Diaspora war. Die Fotos zeigen eine riesige (es sollen wohl etwa 1000 Personen dabeigewesen sein) Menschenmenge mit kreativen, lustigen und bissigen Plakaten. Wie schade, dass ich selber heute leider verhindert war und nicht teilnehmen konnte.

Upd. In seiner Reportage für DW Russian schreibt Dmitrij Vachedin sogar von 3000 Menschen.