“Seid Menschen, seid keine Mörder”: Erklärung der Redaktion von Meduza

„Alexei Nawalny stirbt im Gefängnis. Der Gesundheitszustand des Politikers, der erst vor kurzem wie durch ein Wunder eine Vergiftung mit dem Kampfgiftstoff „Nowitschok“ überlebte, verschlechtert sich rapide. Um zu erreichen, dass ihm in seine Strafkolonie ein Arzt gelassen wird, fing Nawalny einen Hungerstreik an. Er dauert bereits fast drei Wochen an. Es ist eine Geste der Verzweiflung. Die behandelnden Ärzte glauben, dass sein Leben in Gefahr ist.

Gleichzeitig hat sich die Staatsmacht dazu entschieden, seine Anhänger zu zerschlagen und vollkommen zu demoralisieren, indem sie seine Strukturen „extremisitsch“ erklärte. Das ist ein antidemokratischer, verfassungswidriger und vollkommen präzedenzloser Schritt- eine der radikalsten Handlungen der Regierung, die auf die Zerstörung der politischen Konkurrenz in Russland abzielt.

Aber selbst das verblasst vor dem Hintergrund dessen, was mit Nawalny geschieht, den man zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres umzubringen versucht.

Die besten ausländischen Massenmedien, Nobelpreisträger, Wissenschaftler, Schriftsteller, Hollywoodstars versuchen die Aufmerksamkeit der Welt auf das Schicksal Nawalnys zu lenken. Westliche Regierungen drohen der russischen mit Konsequenzen, sollte der Hauptrivale Putins im Gefängnis sterben. Seine Anhänger organisieren eilig eine Kundgebung.

Wird es helfen? Es ist sinnlos, zu raten. In der momentanen Situation muss man so handeln, was einem das gewissen sagt. Alexei Nawalnys Schicksal hängt nur von uns ab. Von jedem von uns. Und nur das ist momentan wichig.

Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns bleibt, um Nawalny vor dem Tod oder schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen zu retten. Möglicherweise ein paar Tage. Vielleicht ein paar Stunden.

Die Redaktion von „Meduza“ fordert, sofort Ärzte zu Alexei Nawalny zu lassen. Es ist eine absolut legale Forderung, der nachzukommen es leichter als leicht ist. Seid Menschen. Seid keine Mörder.“

Schließen Sie sich dieser Forderung an. Teilen sie diesen Text in den sozialen Netzwerken oder ändern Sie Ihr facebook-Profilbild als Zeichen der Solidarität mit einem Menschen, den man im Gefängnis umzubringen versucht. Es ist das Mindeste, was wir tun können.“

Original in Russisch: Мы требуем немедленно пустить врачей к Алексею Навальному От редакции «Медузы» — Meduza

Kleiner Nachrichtenüberblick

Alexei Nawalny befindet sich seit einigen Tagen in Hungerstreik. Seit seiner Einlieferung in das Straflager Nr. 2 in Pokrow wird er durch u.a. Schlafentzug gefoltert. Sein medizinischer Zustand hat sich enorm verschlechtert, so spürt er sein linkes Bein nicht. Währenddessen hat ihm Maria Butina, eine “Journalistin” von RT aufgesucht und ihm eine Standpredigt (anders kann man es nicht nennen), das Gefängnis sei gut ausgestattet und besser, als so manches Hotel in Russland. Mit Journalismus hatte es nichts zu tun, nur mit Demütigung und moralischem Einprügeln auf jemanden, der auf dem Boden liegt. Eine medizinische Maske trug Butina in der Kolonie, in der Maskenpflicht herrscht, auch nicht. Ein besonders eklatantes Beispiel von vielen hunderten, was russländische Staatsmedien ausmacht.

Gestern hat Wladimir Putin das Gesetz unterzeichnet, welches es ihm ermöglicht, sich erst im Jahr 2036 um die Ermogelung von weiteren Amtszeiten kümmern zu müssen.

Seit etwa zwei Wochen gibt es eine größere Konzentration russländischer Truppen an der Grenze zur Ukraine. Gleichzeitig befinden sich drei Kriegsschiffe der baltischen Flotte Russlands unterwegs ins Mittelmeer und wahrscheinlich weiter ins Schwarze Meer. Auf der Krim wurden einige Tausend Mann starke Luftlandetruppen und etwa 500 militärtechnische Einheiten stationiert. Der Militärexperte der “Nowaja Gaseta”, Pawel Felgengauer hält einen Angriff von der ungeschützten ukrainischen Seeseite, etwa zwischen Odessa und Nikolajew für wahrscheinlich, ebenso einen großen Angriff im Osten der Ukraine, ausgehend von den “Volksrepubliken” Donezk und Luhansk. Als Zeitpunkt nennt er frühestens Mitte Mai, da davor die Steppelandschaften und -wege noch vollkommen verschlammt und schwer passierbar sind.

Am 3. April wurde in Sankt-Petersburg das Dokumentarfilmfestival “Artdocfest” von der Polizei aufgelöst. Polizisten und Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde “Rospotrebnadsor” haben einen Kinosaal noch vor Beginn der Vorführungen versiegelt, einen anderen, nachdem dort ein erster Film gezeigt worden ist. Grund für den Abbruch des Festivals ist angeblich ein Schreiben, anders als Denunziation kann ich es nicht nennen, des Aktivisten Timur Bulatow, der auf angebliche “homosexuelle Propaganda” und Nichteinhaltung von Corona-Schutzmaßnahmen hinwies. Bulatow ist ein ultrarechter homophober Sankt-Petersburger Aktivist, der systematisch eine regelrechte Hetzkampagne gegen lgbt-Menschen führt. So veröffentlichte er Adressen und Telefonnummern von Petersburger Schwulen und Lesben, machte homosexuelle Kinder ausfindig und outete sie ihren Familien und Lehrer*innen gegenüber, hetzte gegen Homosexuelle in den sozialen Netzwerken und denunzierte sie regelmäßig bei der Polizei. Die Strafverfolgung gegen die Künstlerin und Aktivistin Julia Zwetkowa, der wegen bodypositiven Zeichnungen von nackter Körper mehrere Jahre Haft wegen “Verbreitung von Pornographie” drohen, ist ebenfalls auf seinem Mist gewachsen.

Quellen:

https://www.svoboda.org/a/31186275.html https://m.rosbalt.ru/world/2021/04/02/1895262.html https://youtu.be/rUIBWdEBL4Ahttps://www.fontanka.ru/2021/04/05/69849905/?ref=f https://www.bbc.com/russian/news-56626780

Für den heutigen Abend ist eine russlandweite Aktion zur Unterstützung von Alexei Nawalny anberaumt. Die Form ist denkbar einfach wie poetisch: Wenn es dunkel geworden ist, soll man aus dem Haus treten und draußen eine (Taschen)Lampe anmachen, es auf Foto/Video festhalten und nach 15 Minuten wieder reingehen. Sofort gab es die erwartbare Reaktion des Staates, die in ihrer Absurdität und Lächerlichkeit mittlerweile typisch ist. So setzte der Dumavizevorsitzende Pjotr Tolstoj (ein Nachfahre des berühmten Schriftstellers) diese Aktion mit angeblichen Überläufern gleich, die während der Leningrader Blockade der deutschen Wehrmacht Informationen mit Hilfe von Lichtzeichen übermittelt hätten. Dass diese Information falsch ist und dass es solche Fälle während der Blockade nachweislich nie gegeben hat- geschenkt. Vertreter*innen des Staates und der Gesellschaft ist heutzutage kein Herbeiziehen der Thematik des “Großen Vaterländischen Krieges” zu blöd oder zu unpassend, um politische Opposition scheinbar zu delegitimieren. Das anschaulichste Beispiel dafür dürfte der momentan laufende Strafprozess gegen Alexei Nawalny sein: Ihm wird die Beleidigung eines 95-jährigen Weltkriegsveteranen vorgeworfen. Zu den absurdesten Momenten dieser abartigen Verhandlung war vorgestern, beim zweiten Prozesstag, der Moment, als die Staatsanwältin Frolowa minutenlang die Lebensgeschichte des “Geschädigten” Veteranen Ignatenko vorliest bei der zahleiche Schilderungen des von ihm erlebten Kriegsgeschehens im Mittelpunkt stehen. Die Frage Nawalnys, was diese Ausführungen mit dem Prozess zu tun hätten, wurden ignoriert.

“Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft! Nur weil Sie eine Robe tragen, ist das hier noch lange kein Gericht! Das Gericht sollte 100 Meter von hier entfernt im Gericht von Chimki tagen.Sie haben mich hierher gezerrt, Sie haben niemanden darüber informiert, Sie haben hier niemanden hereingelassen! Sie nennen das hier eine öffentliche Verhandlung, doch Sie lassen keine Journalisten herein. Sie sagen, Publikum habe freien Zutritt, lassen aber niemanden rein; das Gebäude ist bewacht. Das ist kein Gericht!”

Ein Auszug aus dem Transkript der gestrigen “Gerichtsverhandlung”, die jeglichen Anschein von Legalität über den Haufen geworfen hat.

“Putins Palast: Die Geschichte der größten Bestechung”

“Putins Palast. Die Geschichte der größten Bestechung”.Alexei Nawalnys in Deutschland gedrehtes monumentales (fast 2 Stunden!) Enthüllungsvideo, welches zum ersten Mal Wladimir Putin direkt zum Gegenstand hat. Bislang ging es nur um Geschäftsleute, Minister*innen, Propagandist*innen der staatlichen Sender. Die ranghöchste Person war der ex-Präsident und damalige Premier Medwjedjew: Das Video “Nennt ihn nicht Dimon(=sehr informelle Form seines Vornamens Dmitrij)!” hatte 2017 riesige Proteste mit größtenteils junger Anhängerschaft zur Folge. Es gibt englische Untertitel.

Der Philologe Oleg Lekmanow verweist darauf (und es wurde gerade in der Liveschaltung von TV Dozhd gezeigt), dass in der Polizeistation (nicht im Gerichtsgebäude!), in der Nawalny gerade der Prozess gemacht wird, Porträts der sowjetischen Geheimdienstchefs Dserschinski, Jagoda und Berija hängen. Die letzten beiden waren verantwortlich für Millionen von Toten während der Herrschaft Stalins. Die heutigen Polizei- und Geheimdienstkräfte Russlands zeigen ständig, mit Wort und Tat, die Kontinuität zum mörderischen sowjetischen Geheimdienst auf und erinnern an “die glorreiche Vergangenheit”.

Dass es in Wirklichkeit eine Gurkentruppe ist, die von der allumfassenden Korruption, Ineffizienz, Obrigkeitshörigkeit, betroffen ist, wie die Folgen der Skripal-Vergiftung 2018 und der Nawalny-Vergiftung 2020 zeigen, wird übersehen.

Vgl. dazu auch den Text von Kiril Rogow. .

Upd. “Memorial” fragt auf Facebook: “Was glaubt ihr, wurden die Porträts bloß heute, damit die Polizisten weniger Angst vor Nawalny haben, aufgehangen, oder hängen sie immer dort?”Wiktor Schenderowitsch, Journalist und Satiriker: “Wenn einer Person unter dem Porträt von Jagoda der Prozess gemacht wird, ist es unwichtig, wo genau es stattfindet.”

Nawalnys Rückkehr

Lese grade, man hätte das Flugzeug, welches im Flughafen Wnukowo von Sympathisant*innen und Polizeivans erwartet wurde, nach Scheremetjewo umgeleitet. Soviel zum Thema “Dieser unwichtige Blogger interessiert niemanden und ist vollkommen unwichtig, dass man sich von Seite des Staates näher mit ihm beschäftigt geschweige denn ihn umzubringen versucht.” Putin zeigt zum erneuten Mal, dass er ein altes sich vor Angst in die Ecke verzogenes, abgehalftertes und sich um sein Leben und seine gescheffelten Milliarden sorgendes Tyrannchen ist. Und keinesfalls der oberkörperfreie rücksichtslose gewiefte Fürst der Finsternis, als der er sich früher mal dargestellt hat.

Alexei Nawalny fliegt morgen nach Russland zurück. Die Chancen stehen hoch, dass er direkt beim Aussteigen verhaftet wird. Im besten Fall. Im schlimmsten wird er womöglich irgendwann einfach auf offener Straße niedergeschossen, wie zB vor 6 Jahren Boris Nemzow.Man kann von ihm als Politiker halten, was man will. Auch ich bin kein 100%er Fan. Die Tatsache jedoch, dass er als russischer Staatsbürger auf russischem Boden vom russischen Geheimdienst mit einem illegalen Kampfmittel angegriffen und am elementarem Grundrecht (der Teilnahme am politischen Geschehen) gehindert wurde, ohne dass es irgendwelche Konsequenzen, (zB ein Strafverfahren geben würde und er d e n n o c h den Entschluss fasst, heimzukehren, hebt das Ganze auf eine völlig neue Ebene. Ich glaube, wenn eine Person so fest entschlossen Gefängnis, Folter und Tod als Konsequenzen für sein politisches Handeln in Kauf nimmt, ist es äußerst beachtenswert und verdient zumindest Respekt und Anreilnahme. Mir ist aufgefallen, dass ich im Sommer 2018 ähnliche Gedanken hatte, als es um die unrechtmäßige Haft und den Hungerstreik des 2014 auf der Krim verhafteten ukrainischen Regiesseurs Oleg Senzow ging. Mit jedem Tag, als es immer schlechter um dessen Gesundheit stand, kam die Erkenntnis, dass er über jeden Zweifel an seiner Aufrichtigkeit erhaben sei, wenn er solche Qualen auf sich nimmt.Diese Analogie mag auf den ersten Blick verwundern, aber so ähnlich betrachte ich die momentane Situation von Alexei Nawalny, einem oppositionellen Politiker, der von seinem Staat zunächst jahrelang verleumdet, gepiesackt, an jeglicher politischen Tätigkeit gehindert, schließlich vergiftet und aus dem Land hinaus gedrängt wurde, sich aber jedoch für eine höchst riskante Rückkehr entschieden hat.PS: Als Fan kann ich mir einige Parallelen zu Harry Potter nicht verkneifen. Nur ist in diesem Fall der Oppositionelle, der überlebt hat, der getötet wurde, aber für den Endkampf zurückgekehrt ist und der, dessen Name (von Präsident Putin) nicht genannt werden darf, die gleiche Person 😉

Rechtsstaat Russland

Rechtsstaat Russland ist, wenn die russländische Strafvollzugsbehörde verlangt, dass Nawalny morgen bei ihr vorstellig wird, da sonst eine Umqualifizierung der Bewährungsstrafe zu einer realen Haftstrafe drohe. Es geht um den “Yves Rocher”-Prozess von 2012, bei dem Aleksei Nawalny und seinem Bruder Oleg Veruntreuung und Betrug vorgeworfen wurden. Mittlerweile hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diesen Prozess als vollkommen haltlos eingestuft und eine Entschädigungszahlung angeordnet, die auch getätigt wurde.Ein Strafverfahren wegen der Vergiftung eines oppositionellen Politikers mit einem verbotenen chemischen Kampfstoff wurde übrigens immer noch nicht eröffnet.

Kirill Rogow hat einen m.E. wunderbaren Kommentar zum ganzen “Unterhosen-Gate” um Nawalnys Telefonat mit dem FSBler Kudrjawzew verfasst. Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, ihn trotz der gewissen Länge zu übersetzen und hier zu posten. Das haben die tollen Kolleginnen und Kollegen von dekoder mir abgenommen, ich poste mit großem Vergnügen ihre Übersetzung von Rogows Facebook-Post, finde diesen Text, wie so oft bei Rogow, sehr treffend und äußerst lesenswert.