Kirill Martynow: “Putin ist generell zum Haupthistoriker geworden – andere Historiker werden nicht mehr gebraucht.”

Zuerst der “Zeit”-Gastbeitrag zum 22. Juni, jetzt also eine Abhandlung über die sowjetische Vergangenheit Russlands und ihrer Nachbarstaaten. Putin hat scheinbar ein neues Lieblingshobby.

Die neuesten Ergüsse kommentiert Kirill Martynow, Journalist, Politologe, Publizist, Philosoph, Leiter des Politik-Ressorts in der „Nowaja Gaseta“ (übersetzt von deepl, geringfügigie Verbesserungen von mir):

„Wladimir Putin schrieb einen sehr nützlichen Artikel über die Ukraine und “eine Nation”. Das heißt, der Text ist beängstigend, aber er erklärt einige der unkomplizierten Mechanismen, die in den Köpfen der “russischen Eliten” existieren und die uns an den aktuellen berüchtigten Punkt der Geschichte gebracht haben.

Vom Genre her ist der Aufsatz eine Mischung aus einem Schüleraufsatz und einem historischen “Erklärvideo” auf YouTube, das erzählt, warum wir die Größten sind und wie die “patriotische Geschichte Russlands” aussieht. Es gibt nichts Besonderes an diesem Text, aber die Situation ist so, dass er nun als die höchste Wahrheit in Geschichtslehrbüchern für unglückliche russische Schulkinder zitiert werden wird. Putin ist generell zum Haupthistoriker geworden – andere Historiker werden nicht mehr gebraucht.

Der Text geht von mehreren Grundhypothesen aus. Der einzige wirkliche Staat im postsowjetischen Raum ist die Russländische Föderation, bzw. ihre historische Mission ist es, “unsere Länder” und die “dreieinige slawische Nation” zusammenzuführen. Jeder, der sich dieser Mission widersetzt, ist ein Agent des Westens, ein Verräter und ein Russophobe – etwas zwischen Mazepa und Bandera. Menschen, die die grenzüberschreitende Souveränität der “russischen Welt” leugnen, haben keine Subjektivität und können auch keine haben. Alle Bewohner der postsowjetischen Republiken gehören rechtmäßig zu Moskau. Folglich kann die Ukraine kein Staat im eigentlichen Sinne des Wortes sein: Sie ist nur ein historischer Irrtum, dessen Möglichkeit von den Bolschewiki und der sowjetischen Verfassung festgeschrieben wurde.

Sehr bewegend schreibt Putin, dass die Abschaffung der Führungsrolle der Kommunistischen Partei im Jahr 1989 letztlich Schuld ist – hätte es diese tragischen Ereignisse nicht gegeben, hätte der Staat wahrscheinlich überlebt. Die Russen sollten erwarten, dass eine neue Führungsrolle in greifbarer Nähe ist, und dann ist es nur noch ein Katzensprung zum Artikel über antisowjetische Agitation, der bereits in vielen separaten Artikeln im russischen Strafgesetzbuch enthalten ist.

Da die Ukraine kein Staat ist, ist jede Aktion gegen sie durch “die Logik der Geschichte” und durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, den feindlichen westlichen Kräften entgegenzuwirken, die die irrationalen Vertreter des “einheitlichen Volkes” gegen das schöne Russland aufhetzen.

Die Kreml-Webseite veröffentlichte den Artikel gleichzeitig auf Russisch und Ukrainisch – eine beispiellose Reverenz an die ukrainische Kultur, die jedoch “dasselbe ist wie die russische.” Aber im Kontext der jüngsten Ereignisse liest sich Putins ukrainischer Text ebenso unheilvoll: Ihr werdet euch nicht aus unserer brüderlichen Umarmung lösen, und ihr werdet nicht durch amerikanische Javellin-Raketen gerettet werden.

Putins These, die am meisten diskutiert wird, besagt, dass es notwendig war, sich von der UdSSR mit denselben Territorien abzuspalten, die ihr beigetreten sind – in den Grenzen von 1924. Die Ukraine würde in einem solchen Szenario die Hälfte ihres Territoriums verlieren, darunter die Krim, aber auch Bessarabien, die nördliche Bukowina und das ehemalige Ostpolen. Es ist klar, dass, wenn wir diese Hypothese auf die RSFSR anwenden, sie ohne die Kurilen, Süd-Sachalin, Karelien, Wyborg und das Kaliningrader Gebiet auskommen müsste. Aber hier geht der Autor natürlich davon aus, dass “es sich nicht auf uns erstreckt” – wir sind nicht gegangen, sondern wir sitzen schon lange hier, wir sind die Rechtsnachfolger und so weiter.

Die historischen Ereignisse in Putins Text werden genau nach sowjetischen Lehrbüchern aus der Breschnew-Ära dargestellt – wenn etwas in der UdSSR enthalten ist, dann passiert es eben, einfach so. Zum Beispiel wurde die Nord-Bukowina 1939 einfach mit einbezogen – als Ergebnis von Stalins friedliebender Politik. Eine ganz andere Sache ist es, wenn wir etwas verlieren.

Putin schreibt auch über die unerträgliche Friedfertigkeit Moskaus in Bezug auf die jüngsten Ereignisse: Sie sagen, dass wir alles getan haben, um den brudermörderischen Bürgerkrieg in der Ostukraine zu beenden, indem wir die Minsker Vereinbarungen angeboten haben. Hier haben wir ein kleines Malheur: Im Gegensatz zu den Ereignissen von 1939 erinnern wir uns gut daran, was 2014 geschah, und die Helden jener Jahre, Surkow und Borodai, erzählen gerade auf YouTube, wie sie “Mariupol einnehmen” wollten, aber der Befehl kam, dass jetzt nicht die Zeit dafür sei – aber “eines Tages wird die ganze Ukraine uns gehören”. Ein solcher Dissens diskreditiert in gewisser Weise die ganze Historiosophie der innerstaatlichen Befriedung angesichts des heimtückischen Finnlands, Lettlands, Litauens und Estlands und so weiter.

Generell müssen Russen und Ukrainer vorbereitet sein: Es wird vielleicht keinen Krieg geben, aber der Kampf um den Frieden wird härter denn je sein.

Übersetzt mit http://www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)”

Unter dem Terror der “Minenarbeiter” und “Traktoristen”, die im Frühjahr 2014 unter Führung des GRU-Offiziers Girkin in Slawjansk, Donezk und anderswo im Osten der Ukraine die Kontrolle übernahmen, fanden auch standesrechtliche Erschießungen statt. Girkin, der “Verteidigungsminister” der “Volksrepublik Donezk” (DNR) begründete diese “Urteile” mit einer Order vom 22. Juni 1941, dem Tag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion.

Journalisten von “Radio Free Europe/Radio Liberty”, haben Dokumente ausgewertet, die nach dem Rückzug der DNR-ler aus Slawjansk im Sommer 2014 in Girkins Büro gefunden worden sind. Igor Girkin in späteren Interviews mehrmals damit geprahlt, er habe den Krieg im Osten der Ukraine auf russisches Geheiß gestartet. Er ist einer der Angeklagten beim Prozess um die von den DNR-Separatisten im Sommer 2014 abgeschossene malysische Boeing.Die meisten der “Feldkommandeure” der “Volksrepubliken” Donezk und Lugansk der ersten Stunde sind mittlerweile nicht am Leben. Girkin hat sich rechtzeitig zurückgezogen und lebt in Russland, ohne irgendeine nennenswerte Bedeutung zu spielen.

Jurij Dmitriev zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt

Eine Erklärung von “Memorial Deutschland”: “Das Stadtgericht von Petrosavodsk hat Jurij Dmitriev zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren strengen Regimes verurteilt.

Memorial International hat aus diesem Anlass folgende Erklärung veröffentlicht:

Der langwierige Prozess gegen Jurij Dmitriev fand heute, am 22. Juli 2020 seinen Abschluss. Er endete mit einem partiellen Schuldspruch. Dmitriev wurde zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.

Obwohl das Urteil im Vergleich zu den von der Staatsanwaltschaft beantragten 15 Jahren offensichtlich milde ausfällt, ist es kein gerechtes Urteil.

Die völlige Haltlosigkeit der Anklagen war von Anfang an ersichtlich. Ein faires Urteil zu einer so schwerwiegenden Beschuldigung müsste eines klar stellen: Die Anklage hat keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Dmitriev gewaltsame Handlungen sexuellen Charakters gegenüber seiner minderjährigen Pflegetochter begangen hat.

Dennoch haben diese Beschuldigungen Jurij Dmitriev bereits mehr als drei Jahre Freiheit gekostet und das Schicksal seiner Pflegetochter zerstört.

22. Juli 2020″

Wägrend eines Gottesdienstes anlässlich des Jahrestages des deutschen Angriffs auf die UdSSR in der neueröffneten Hauptkathedrale der russländischen Streitkräfte (in der scheinbar auch eine Uniformmütze von Hitler aufbewahrt wird und auf einer Mosaik Stalin, Putin, der Verteidigungsminister Schojgu u.w. zu sehen sind) beglückwünschte der Patriarch Kirill alle herzlich an “diesem traurigen aber bedeutsamen Tag.”

Das heutige Russland in einem Bild

“Verteidigen wir die Erinnerung unserer / an unsere Vorfahren. Verfassung 2020”

Die Apotheose der kranken russländischen Geschichtskultur: 1) wenn kleine Kinder in eine Soldatenuniform gepackt werden (um den 9. Mai geistern immer wieder solche Bilder durchs Netz) , eine Kleidung, in der getötet und gestorben wird2) wenn die rechtswidrige Volksabstimmung über die rechtswidrigen Verfassungsänderungen, die Putin ein Herrschen bis mindestens 2036 ermöglichen, absurderweise an den Zweiten Weltkrieg geknüpft wird3) die Rhetorik der Verteidigung: man wird von allen Seiten angegriffen, die “Russophobie” lauert überall, man will uns DEN GROßEN SIEG strittig machen, Provokationen unser westlichen Partner, wir könnens wiederholen! (ein häufig verwendeter Satz, der zwar auf den Mai 1945 anspielt, den Sommer 1941 aber seltsamerweise komplett ausblendet, oft zu finden aufgeklebt auf einem BMW, Audi oder Mercedes, oft in Verbindung mit einem Strichmännchen mit Hammer und Sichel statt Kopf, welches ein Strichmännchen mit Hakenkreuz statt kopf von hinten bumst, zusammen mit Georgsband und krimistunser-Hashtag der perfekte Starterpack für russländische Großmacht-UdSSR-Weltkrieg-Stalin-Vögel)

Kim Jung-un wurde von Wladimir Putin mit der Medaillie “75 Jahre Sieg im Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945” ausgezeichnet. Laut des offiziellen präsidiellen Ukas(=Verfügung) zu dieser im Juni letzten Jahres gestifteten Auszeichnung, steht sie Personen zu, die an Kämpfen teilgenommen haben, Gefangenen von Ghettos (Ghetti?) und KZ’s sowie Staatsbürgern anderer Staaten, die in der Roten Armee gekämpft haben. Kim wurde 1984, somit trifft nichts davon auf ihn zu. Begründet wurde die Auszeichnung damit, dass sich Kim “in besonderem Maße um die Pflege und den Zustand sowjetischer Kriegsgräber verdient gamacht” habe. Meiner Meinung nach stellt diese Auszeichnung jedoch einen weiteren Höhepunkt in der Profanierung und dem Missbrauch der Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs durch den russländischen Staat dar.